Wie entwickelt sich ein Wald, der über Jahrzehnte nicht bewirtschaftet wird? Dieser Frage gingen rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Waldspazierganges nach, zu dem der Bürger- und Kulturverein Altes Zollhaus und die »Initiative für eine ökologische und soziale Politik in der Gemeinde Lüdersdorf« am Samstag, 19. Oktober unter Leitung des Lübecker Revierförsters Jörg Baeskow eingeladen hatten.
Das Glück einer menschlichen Nutzung zu entgehen, können nicht viele deutsche Wälder für sich in Anspruch nehmen. Ein rund 50 Hektar großes Waldstück zwischen den mecklenburgischen Dörfchen Utecht und Schattin aber lag, durch Lübecker Hoheitsrechte begründet, in DDR-Zeiten jahrzehntelang im Dornröschenschlaf und durfte von forstwirtschaftlichen Eingriffen unbehelligt vor sich hinwachsen. Jörg Baeskow erläuterte fachkundig, die verschiedenen Wald-Ökosysteme, die sich in dieser Zeit entwickeln konnten.
Vieles gab es auf dem gut zweistündigen Rundgang zu bestaunen, was dem unkundigen Waldspaziergänger schlicht durch die Lappen gegangen wäre: Fichtenplantagen, in die seit der Pflanzung 1966 kein Waldarbeiter mehr seinen Fuß gesetzt hatte, zwar mit wenig Naherholungswert, aber hier bemerkenswerterweise ohne den von Förstern bundesweit so gefürchteten Borkenkäfer, der sich im durch viele umgestürzte Stämme feuchten und pilzigen Mikroklima überhaupt nicht wohl fühlt. Auch im Laubmischwald, in dem trotz hohem Rehbestand ein natürlicher Aufwuchs zu sehen war, spielten die umgestürzten Stämme eine Hauptrolle: An ihren Seiten gediehen die jungen Bäume unbehelligt, dort wo Totholz die Übersicht und die Flucht für das Reh behindert. Teile des Waldes wuchsen auf aufgeforsteten „Wölb-Äckern“. Baeskow erläuterte, wie unsere Vorfahren sie in weiser Voraussicht angelegt hatten: In feuchten Jahren bewirtschafteten sie die Kuppen, in Trockenperioden die Senken. Zwar verzichteten sie auf 50 Prozent ihres Ertrages, konnten sich aber ihrer Ernte stets sicher sein. Nicht nur für den Geist, auch für den Körper bot der Spaziergang Anregung: Es galt Kerbtäler mit bis zu fünf Meter tiefen Einschnitten zu überwinden und mit dem Kopf weit im Nacken immer wieder die hohen, gerade gewachsenen bis zu 150 Jahre alten Baumstämme und Kronen zu bestaunen, die bei uns heimisch sind und sich bei jeder Witterung behaupten können: Eichen Ulmen, Hainbuchen, Kirschen und schließlich die Buche, als Leitbaum unserer nordischen Wälder.
Verwundert vernahmen die Teilnehmer, dass in deutschen Wäldern trotz vielfach erklärter Ziele zur ökologischen Bewirtschaftung immer noch die Fichte vorherrscht. Und dass sie, trotz aller Mühen der Läuterung und Durchforstung nur schlappe 300 bis 350 Festmeter Holz pro Jahr einbringt. Buchenbestände, aus denen wie im gesamten Lübecker Stadtwald nur einzelne alte Stämme herausgeholt werden, der übrigens für weitsichtige Geister weltweit als Vorzeigemodell gilt, bringen es dagegen auf erstaunliche 1.000 bis 1.200 Festmeter Holz pro Jahr. Rund 30 bis 40 Eingriffe in sein Ökosystem erlebt ein Baum in seinem forstwirtschaftlichen Leben, die ihm erspart bleiben, wenn er im Hoheitsgebiet Lübeck wächst, wo 10 Prozent des Waldes für Forschungszwecke komplett aus der Nutzung herausgenommen werden. Baeskow kritisierte unseren Umgang mit Holz, das zu 50 Prozent für schnelllebige Produkte wie Papier und Brennholz verarbeitet wird und damit immer wieder die Pflanzung schnellwüchsiger Nadelplantagen ankurbelt, die in unseren Breiten weder über noch unter der Erde ein intaktes Ökosystem aufbauen können.
Denn der wichtigste Teil des Walduniversums liegt unsichtbar unter unseren Füßen: „Über 50 Prozent des Waldökosystems macht der Waldboden aus“ erläuterte Baeskow: „Und wir wissen noch so gut wie gar nichts darüber“. Nur soviel, dass Waldbäume über Bodenpilze miteinander kommunizieren und anders als bisher angenommen, nicht im wilden Wettstreit zueinander stehen, sondern sich gegenseitig unterstützen. Und auch, dass die wahre CO2-Senke nicht die Bäume selber, sondern der Waldboden ist. „Als eine der wertvollsten Ressourcen weltweit, müssen wir unsere Waldböden schützen“, mahnte Baeskow. Dem aktuellen Kurs von Politik und Forstverbänden, standortfremde Bäume wie die Douglasie in unseren Wäldern anzusiedeln, erteilte er eine klare Abfuhr: „Ob Eingliederungsprozesse gelingen, wird erst nach 50, 100 oder gar 300 Jahren sichtbar, da sind fremde Baumarten viel zu riskant. Es gibt sie ja die Baumarten, die bei uns optimal funktionieren und das Waldökosystem auch im Klimawandel erhalten, sofern man es einfach in Ruhe lässt.“ Viele Gedanken, die zum Nachdenken anregten und den eingeschlagenen Kurs aktuell amtierender Politiker höchst fragwürdig aussehen ließen, bot dieser tiefgründige Waldspaziergang. Viel Applaus am Ende für den kundigen Führer. Und man hofft inständig auf Weiterverbreitung und Fortsetzung.
Susanne Pröpsting